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PresseEcho

18.01.2005
Der Tagesspiegel

Fürs Leben rechnen

Schulen für Lernbehinderte gründen Firmen: Die Schüler bekommen Erfahrung und bald einen neuen, berufsorientierten Abschluss

„Kids Backstube“ steht auf den sieben weißen Mützen, die da am frühen Morgen durch die blitzblanke Küche der Pestalozzi-Schule in Zehlendorf huschen. Sechs Schüler backen mit ihrer Lehrerin Erika Kreil alles, was gut und lecker ist: Brötchen, Schweineohren, Hefezöpfe.

Aber bevor es soweit ist, muss gerechnet werden: ein Achtel Mehl und noch ein Achtel. Aber wie, um Himmels willen, sollen daraus Viertel werden? Noël, Sven, Katharina, Sabrina, Sven und Marcel – alle zwischen 16 und 18 Jahre alt – zerbrechen sich den Kopf, und es dauert eine Weile, bis alle Zutaten akurat abgewogen auf dem großen Tisch stehen. Dann noch die Milch erwärmen – und los geht es mit dem Hefeteig.

Hier zählt die Praxis. Lernbehinderte Jugendliche der Comenius-Schule (kleine Bilder) sammeln Erfahrungen im Mangeln, Waschen und Catering. Schüler Noël von der Pestalozzi-Schule präsentiert stolz die frisch gebackenen "Schweineohren".

Dass das Rechnen eine Weile dauert, liegt daran, dass hier lernbehinderte Schüler beisammen sind. Sie haben nicht nur mit dem Rechnen Probleme, sondern auch mit dem Lesen und Schreiben. Um diese Hürden zu nehmen, brauchen sie konkrete Zusammenhänge und Anlässe, sagt Erika Kreil. Diesen Kindern hilft es nicht, wenn ihnen jemand sagt, dass sie Achtel in Viertel nur deshalb umrechnen müssen, weil sie das „später einmal brauchen“.

Um den Schülern möglichst viele konkrete Zusammenhänge zu liefern und ihnen außerdem noch Pünktlichkeit und Teamarbeit beizubringen, kam die Pestalozzi-Schule schon vor einigen Jahren auf die Idee, den normalen Arbeitslehre-Unterricht auszuweiten: Lehrer und Schüler begannen, in ihren Küchen und Werkstätten so etwas wie Schülerfirmen aufzubauen. Anfangs gab es nur eine Catering-Firma, dann kamen die Bäckerei dazu, die Heißmangel und die Tischlerei. Eine Firma für Gebäudereinigung und Gartenbau und eine Schneiderei folgten.

Die Schülerfirmen sind eine Erfolgsgeschichte. Mit Hilfe des Europäischen Sozialfonds und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM-Stellen) wurden sie inzwischen an fast allen 46 Sonderschulen für Lernbehinderte eingerichtet. Aber dabei soll es nicht bleiben: Ab dem Schuljahr 2006/07 wird es sogar einen speziellen berufsorientierten Schulabschluss geben. Er baut auf den Kenntnissen auf, die die Schüler in ihren Firmen gesammelt haben und bescheinigt ihnen die dort gewonnenen Kompetenzen.

„Dieser neue Abschluss ist deutschlandweit einmalig“, sagt Peter Hübner, Referatsleiter in der Senatsverwaltung für Bildung. Erreicht wird damit zweierlei: Erstens bekommen auch jene lernbehinderten Schüler einen Abschluss, die an der Hürde „Hauptschulabschluss“ scheitern. Zweitens können die Arbeitgeber gleich sehen, welche beruflichen Fähigkeiten der Bewerber mitbringt.

Dass es ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt erheblich verbessert, wenn die Jugendlichen praktische Berufserfahrungen in der Schule gesammelt haben, zeigt die Erfahrung der „Kids Backstube“: Schulleiter Dietmar Reich berichtet, dass drei dieser Schülerfirma-Absolventen bereits eine Lehre geschafft haben und zwei weitere gerade in der Ausbildung sind.

Die Suche eines Ausbildungsplatzes wird auch dadurch erleichtert, dass die Schülerfirmen meist Partnerbetriebe haben. Sie beraten die Schüler nicht nur, sondern bieten auch Praktika an. Der 17-jährige Sebastian beispielsweise, der zu den Backstuben-„Kids“ gehört, steht zurzeit jeden Dienstag um fünf Uhr auf, um pünktlich beim Teltower Partnerbetrieb, der Bäckerei Neuendorf, zu sein.

Aber die Schülerfirmen „liefern“ nicht nur erfahrene Praktikanten und Azubis, sondern auch handfeste Unterstützung: „Während der Weihnachtszeit haben wir für unseren Partnerbetrieb 40000 Lebkuchenstücke gefertigt“, berichtet Lehrerin Erika Kreil.Ebenso kommt es vor, dass die Caterer der Pestalozzi-Schule andere große Caterfirmen unterstützen, wenn es drauf ankommt – wie neulich bei einer Veranstaltung im Spiegelzelt.

„Schülerfirmen sind realitätsbezogener als das Fach Arbeitslehre“, hat Schulleiter Reich festgestellt. Er ist froh darüber, dass er seine Schüler künftig nicht nur mit den Erfahrungen aus den Schülerfirmen, sondern auch mit dem neuen „berufsorientierten Abschluss“ ins Leben schicken kann. Bisher konnte er ihnen nur den Sonderschulabschluss in die Hand drücken. Den wird es auch weiterhin geben – aber nur dann, wenn man die Bedingungen für den berufsorientierten Abschluss nicht erfüllt.

Zu diesen Bedingungen gehört, dass die Zehntklässler in der Fächergruppe Deutsch, Mathematik und Arbeitslehre mindestens zwei Mal ein „ausreichend“ erreicht haben. Außerdem müssen sie im Team eine praktische Arbeit präsentieren und auch dabei mindestens eine ausreichende Leistung abliefern.

An der Präsentation wird es bei den Schülern der „Kids Backstube“ bestimmt nicht scheitern. Selbstbewusst gehen sie ans Werk, organisieren den Einkauf und verkaufen die Brötchen, Hefezöpfe und Kuchen an Schüler und Lehrer. Sie wissen, dass ihre Waren schmecken, und jeder hat seine Spezialität. So wie Noël, der immer dann ran muss, wenn die Schweineohren auf dem Backplan stehen. Er kann es eben am besten.


ZAHLEN UND RECHTSLAGE
Vorrang für die Integration behinderter Kinder

SONDERSCHULEN
Von Berlins 340000 Schülern besuchen 13500 eine Sonderschule. Dies entspricht einem Anteil von rund vier Prozent. Die Schüler werden je nach individuellem Bedarf auf unterschiedlich spezialisierte Schulen verteilt. Insgesamt gibt es 95 Sonderschulen, davon 46 für Lernbehinderte und rund 18 für geistig Behinderte. 31 Schulen bieten Förderschwerpunkte für Hör-, Seh- und Sprachbehinderte sowie für Kinder mit Defiziten in der körperlichen und motorischen Entwicklung. Als „lernbehindert“ eingestuft werden Schüler aufgrund einer geringen Intelligenz oder aufgrund starker sozialer und emotionaler Störungen. Häufig kommen beide Probleme zusammen und verstärken einander.

INTEGRATION
Bundesweit besuchen fünf Prozent eines Jahrgangs eine Sonderschule, also mehr als in Berlin. Dies liegt aber nicht daran, dass es in Berlin weniger behinderte Kinder gäbe, sondern daran, dass hier weitere 2900 Behinderte keine Sonderschulen besuchen, sondern an Grund- und Oberschulen integriert werden. Wenn man sie zu den 13500 Kindern an Sonderschulen hinzuzählt, ergibt sich ein überproportional großer Anteil von behinderten Schülern. Auffällig ist, dass die Zahl der Kinder an Sonderschulen seit 1995 stagniert, obwohl die Gesamtschülerzahl um rund 80000 zurückgegangen ist und obwohl so viele behinderte Kinder in Regelschulen integriert werden.

IMMER MEHR BEHINDERTE
Die Meinungen über die Ursache für den Zuwachs an behinderten Kindern gehen auseinander: Die Senatsverwaltung für Bildung vermutet, dass schwierige Kinder von den zuständigen Pädagogen in den so genannten Förderausschüssen voreilig als behindert eingestuft werden, damit die Schulen zusätzliches Personal beantragen können. In Pädagogenkreisen wird dies zuückgewiesen. Sie führen die gestiegene Zahl der als behindert geltenden Kinder darauf zurück, dass heute Defizite entdeckt werden, auf die früher nicht genügend geachtet wurde. Zudem steige die Zahl hyperaktiver Kinder und sozial-emotional vernachlässigter Kinder, die infolge mangelnder Frühförderung zurückbleiben.

NEUE RECHTSLAGE
Das neue Schulgesetz räumt der Integration behinderter Kinder Vorrang ein vor der Unterbringung in Sonderschulen. Bislang wurden beide Optionen gleichrangig behandelt. Außerdem können die Eltern nun mehr mitbestimmen: Statt der inzwischen abgeschafften Förderausschüsse können sie selbst entscheiden, wo ihr Kind am besten aufgehoben ist. Allerdings hat diese Freiheit ihre Grenzen: Mehr als die jetzt vorhandenen 1209 Stellen für die Behindertenintegration wird es aufgrund der Haushaltsnot nicht geben. Wenn ein Schulleiter ein behindertes Kind mit Hinweis auf fehlende Stellen nicht nehmen will, hat ein Schlichtungsgremium das letzte Wort. sve


Abschaffung der Förderklassen stößt auf Kritik
Die Senatsverwaltung für Bildung bekommt nicht nur Lob für ihre Reformen im Bereich der Behindertenpädagogik. Besonders umstritten ist die beschlossene Abschaffung der sonderpädagogischen Förderklassen („Dehnklassen“) an den Sonderschulen, die bislang rund 1400 Erst- und Zweitklässlern die Möglichkeit einer intensiven Förderung in Kleingruppen geboten haben.

Der Begriff „Dehnklassen“ deutet darauf hin, dass sie den Stoff der ersten beiden Schulklassen auf drei Jahre verteilen („dehnen“). Damit sollte erreicht werden, dass Kinder mit Wahrnehmungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen in die Lage versetzt werden, ihre Defizite auszugleichen.

Kann ein Kind beispielsweise „W“ und „M“ oder „b“ und „d“ nicht unterscheiden, werden diese Buchstaben mit Materialen wie Stoff oder Seilen fühlbar gemacht: „Die starken Sinne unterstützen die schwachen“, beschreibt Schulleiter Dietmar Reich das Konzept. Er hat wie viele andere darauf hingewiesen, dass er das Aus der Dehnklassen für eine „Katastrophe“ hält. Auch Wolfgang Meinecke vom Landeselternrat sagt, es sei falsch, die Lehrerstunden, die jetzt in den Dehnklassen stecken, „nach dem Gießkannenprinzip“ auf alle Grundschulen zu verteilen.

Die Bildungsverwaltung verteidigt ihre Grundidee, alle Schüler zusammen zu unterrichten, und bestreitet, dass das Ganze ein „Sparmodell“ sei. Sie hat angeregt, dass Sonderpädagogen Fortbildungen in den Grundschulen anbieten. Außerdem weist sie darauf hin, dass es auch künftig die Möglichkeit gibt, in temporären Lerngruppen Problemkinder intensiver zu fördern. Reich hält das für „Schönrederei“. Er kann sich nicht vorstellen, dass Grundschullehrer in Klassen mit bis zu 28 Kindern die schwierigen Schüler genügend fördern können.

(Susanne Vieth-Entus)

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